Zweifel an der Krankschreibung: Wann können Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung anzweifeln?

Beweislast bei Arbeitsunfähigkeit: Wer muss was beweisen?
Arbeitnehmer tragen die Nachweispflicht
Grundsätzlich liegt die Beweislast für die Arbeitsunfähigkeit zunächst beim Arbeitnehmer. Er muss glaubhaft machen, dass er aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage war, seine Arbeitsleistung zu erbringen. Die AU-Bescheinigung ist dafür das wichtigste Mittel – sie begründet eine gesetzliche Vermutung dafür, dass tatsächlich eine Erkrankung vorliegt. Man spricht hier auch vom sogenannten Anscheinsbeweis.
Arbeitgeber können den Beweiswert erschüttern
Trotz dieses starken Beweiswertes haben Arbeitgeber das Recht, Zweifel an einer Arbeitsunfähigkeit zu äußern, wenn objektive Umstände vorliegen, die die Glaubwürdigkeit des Attests infrage stellen. Liegen daher gewichtige Indizien vor, die berechtigterweise Zweifel an der AU aufkommen lassen können, kann der Beweiswert einer AU-Bescheinigung erschüttert sein.
Liegt ein solcher Fall vor, kehrt sich die Beweislast wieder um: Der Arbeitnehmer muss dann detailliert darlegen und beweisen, dass die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit tatsächlich bestanden hat. Die Anforderungen sind in diesem Fall hoch. Im Zweifel wird gerade bei Gerichtsprozessen der Arzt hinzugezogen und von der Schweigepflicht entbunden werden müssen. Ebenfalls muss der Arbeitnehmer in diesem Fall konkret vortragen, weshalb er seiner Tätigkeit krankheitsbedingt, nicht nachgehen konnte. Die alleinige Offenlegung der Diagnose reicht in diesem Fall nicht aus.
Typische Gründe für Zweifel an der Krankschreibung
Krankschreibung nach Kündigung
Ein häufiger Streitpunkt und fast schon ein Klassiker geworden ist die Krankschreibung unmittelbar nach einer Kündigung, die passgenau bis zum Ende der Kündigungsfrist ausgestellt wird. Die Gerichte – allen voran das Bundesarbeitsgericht (BAG) (Urteil vom 08.09.2021, 5 AZR 149/21) – werten solche Fälle als mögliches Indiz für Missbrauch. Die Rechtsprechung hat sich im Laufe der letzten Jahre diesbezüglich stark gewandelt, so dass es mittlerweile mehrere Urteile gibt, die in dieser Konstellation zugunsten von Arbeitgebern entschieden haben. Ich möchte jedoch betonen, dass es immer auf die Umstände des Einzelfalls und eine Gesamtabwägung ankommt. In der Praxis führt dies bei einem Obsiegen dazu, dass Arbeitgeber aufgrund der zweifelten Arbeitsunfähigkeit nicht mehr dazu verpflichtet sind, Entgeltfortzahlung zu zahlen.
Ein häufiger Streitpunkt ist die Krankschreibung unmittelbar nach einer Kündigung, die genau bis zum Ende der Kündigungsfrist ausgestellt wird. Die Gerichte – allen voran das Bundesarbeitsgericht (BAG) (Urteil vom 08.09.2021, 5 AZR 149/21) – werten solche Fälle als mögliches Indiz für Missbrauch.
Online-Attest ohne Arztkontakt: Wann ist das Attest zweifelhaft?
Immer mehr Arbeitnehmer nutzen Onlineportale zur Krankschreibung, teilweise ohne persönlichen Arztkontakt. Laut § 4 der AU-Richtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses ist eine ärztliche Untersuchung (persönlich, telefonisch oder per Videokonferenz) jedoch verpflichtend. Ein ärztliches Attest ohne Arztkontakt kann daher von Arbeitgebern in diesem Fall angezweifelt und abgelehnt werden.
Das Arbeitsgericht Berlin stellte bereits 2021 klar: Eine online AU-Bescheinigung ohne vorangegangene ärztliche Untersuchung hat keinen vollen Beweiswert (42 Ca 16289/20) und muss nicht vom Arbeitgeber akzeptiert werden.
Weitere Verstöße gegen die AU-Richtlinien
Neben dem notwendigen Arztkontakt kann eine AU-Bescheinigung auch wegen anderer formeller Verstöße Zweifel wecken. Dazu zählen etwa:
- Rückdatierungen um mehr als drei Tage
- AU-Bescheinigungen die im Voraus für mehr als zwei Wochen ausgestellt werden (dies darf nur im absoluten Ausnahmefall erfolgen)
- Fehlende ärztliche Untersuchung vor Ausstellung
Das BAG hat in seinem Urteil vom 28.06.2023, 5 AZR 335/22 bestätigt, dass Verstöße gegen die AU-Richtlinien grundsätzlich dazu geeignet sind, den Beweiswert einer AU-Bescheinigung zu erschüttern.
Krankmeldung kombiniert mit auffälligem Verhalten
Auch das Verhalten des Arbeitnehmers kann Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit begründen. Typische Beispiele:
- Krankmeldung direkt nach abgelehntem Urlaubsantrag
- Häufung von Krankschreibungen an Brückentagen, Montagen oder Freitagen
- Nachweisbare unangemessene Freizeitaktivitäten während der AU (z. B. übermäßiger Sport, Feiern, Urlaubsreisen)
- Nebenjob trotz Krankschreibung
Insbesondere durch Social Media lassen sich solche Fälle heute leichter dokumentieren.
Arbeitsunfähigkeit überprüfen: Rechte und Optionen für Arbeitgeber
Direktes Gespräch suchen
Bei ersten Zweifeln empfiehlt es sich, das persönliche Gespräch mit dem Mitarbeitenden zu suchen. Auch wenn Mitarbeitende nicht per se verpflichtet sind, Diagnosen preiszugeben, kann das Verhalten im Gespräch wichtige Hinweise liefern. Liegen jedoch stichhaltige Anhaltspunkte vor, die Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit gerechtfertigt erscheinen lassen, muss der Arbeitnehmer im Streitfall spätestens dann Auskunft geben.
Medizinischen Dienst einschalten
Bei anhaltenden Zweifeln können Arbeitgeber den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) beauftragen. Der MDK überprüft, ob die Arbeitsunfähigkeit tatsächlich besteht und unterzieht den Mitarbeitenden einer ärztlichen Untersuchung.
Entgeltfortzahlung verweigern bei berechtigten Zweifeln
Wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die Zweifel an der AU-Bescheinigung begründen, können Arbeitgeber die Lohnfortzahlung vorläufig einstellen. Der Arbeitnehmer muss dann die tatsächliche Erkrankung und die Arbeitsunfähigkeit nachweisen.
Das BAG hat dazu klargestellt, dass Arbeitnehmer in diesem Fall umfassende Informationen zur Erkrankung, zu Beschwerden, Medikamenten und zu ärztlich verordneten Verhaltensregeln liefern müssen (Urteil vom 13.12.2023, 5 AZR 137/23).
Fazit: Arbeitsunfähigkeit anzweifeln – zwischen Misstrauen und Rechtssicherheit
Die Möglichkeit, eine Krankschreibung anzuzweifeln, ist für Arbeitgeber ein wichtiges Instrument, um Missbrauch vorzubeugen. Gleichzeitig schützt die AU-Bescheinigung Arbeitnehmer vor ungerechtfertigten Sanktionen.
Arbeitgeber sollten bei Zweifeln an der AU stets folgende Punkte beachten:
- Zweifel müssen auf nachvollziehbaren, objektiven Tatsachen beruhen
- Ohne berechtigten Grund ist die AU anzuerkennen
- Erst nach Erschütterung des Beweiswertes wechselt die Beweislast zum Arbeitnehmer
Kurzum: Gerade in sensiblen Situationen wie der Überprüfung einer Krankschreibung ist es entscheidend, die Balance zwischen berechtigtem Misstrauen und dem respektvollen Schutz der Mitarbeitenden zu halten – denn das ist die Grundlage für Vertrauen und Rechtsfrieden im Unternehmen.

Über den Autor
Livia Merla ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht in Berlin und geschäftsführende Partnerin der Kanzlei MGP Merla Ganschow & Partner mbB Steuerberater Rechtsanwalt in Berlin Charlottenburg.